Vor einiger Zeit begleitete ich eine Non-Profit-Organisation bei der Entwicklung einer neuen Strategie. Der Auftrag war klar: den Vorstand und das Leitungsteam dabei zu unterstützen, eine Vision und Prioritäten für die kommenden Jahre zu gestalten. Was darauf folgte, war jedoch alles andere als klar. Statt Fortschritt erlebten wir Stillstand. Statt Klarheit, Verwirrung. Statt gemeinsamer Ausrichtung, Frustration.
Der Grund lag nicht in mangelnder Kompetenz. Das Team war motiviert, der Vorstand engagiert, u

nd es mangelte nicht an Ideen. Das eigentliche Hindernis war Führung – oder genauer gesagt: das Fehlen von Führung.
Die geschäftsleitende Person war nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Oder vielmehr: diese Person konnte nicht zu ihnen stehen. Selbst wenn ein kleiner nächster Schritt vereinbart war, kam sie nach einigen Tagen zurück, um ihn zu überarbeiten oder rückgängig zu machen – und bestand darauf, dass auch ich die zuvor vereinbarte Richtung nicht weiter verfolgen dürfe. Ihre Angst, eine „falsche“ Entscheidung zu treffen, lähmte die Organisation ebenso wie den Strategieprozess. Wir alle schwankten zwischen Themen, Zeitplänen und Aufgaben, ohne klares Gefühl dafür, was besprochen, entschieden oder verfolgt werden sollte. Der Prozess verlor seinen Sinn.
Diese Erfahrung ist mir geblieben. Sie hat mir auf sehr greifbare Weise gezeigt, was Führung ist, und was sie nicht ist.
Führung erfordert Mut
Irgendwann muss eine Führungsperson entscheiden. Darauf zu warten, dass alle einverstanden sind oder völlige Gewissheit besteht, ist keine Führung. Es ist Aufschub. Und Aufschub erzeugt Verwirrung.
Eine gute Entscheidung bedeutet nicht, dass jede Stimme zufrieden ist. Im Gegenteil – Uneinigkeit ist normal und gesund. Entscheidend ist, dass die Führungskraft die Entscheidung transparent kommuniziert: welche Überlegungen dazu geführt haben, welche Argumente abgewogen wurden und welche Perspektiven nicht übernommen wurden – und dennoch als gültig anerkannt bleiben. Diese Ehrlichkeit beseitigt Enttäuschung nicht, aber sie schafft Vertrauen. Sie zeigt, dass der Prozess echt war, dass verschiedene Positionen gehört wurden und dass die Führungskraft bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.
Führung erfordert Flexibilität
Entscheidungen sind nicht für die Ewigkeit. Manchmal zeigt neue Information, dass ein eingeschlagener Kurs falsch war. Manchmal ändern sich die Umstände. Dann wird die Fähigkeit, die Richtung zu ändern, ebenso wichtig wie die Fähigkeit, sie festzulegen.
Flexibilität ist jedoch nicht dasselbe wie Unentschlossenheit. Es geht nicht darum, aus Angst, Fragen ständig wieder zu öffnen. Flexibilität bedeutet die Bereitschaft zu sagen: „Wir dachten, dies sei der beste Weg. Jetzt wissen wir es besser. Darum ändern wir die Richtung – und hier geht es weiter.“
Auch hier sind Kommunikation und Ehrlichkeit entscheidend. Menschen können eine Kursänderung akzeptieren, wenn sie sie verstehen.
Warum Entscheidungen nie rein rational sind
Wir glauben gerne, dass Führungsentscheidungen rein rational getroffen werden können – auf der Grundlage von Analyse und Evidenz. Doch das ist eine Illusion.
Entscheidungen über die Zukunft sind per Definition Entscheidungen über etwas, das nicht existiert. Sie beruhen zwar auf Daten und Überlegungen, aber ebenso auf Werten, Intuition und Emotion. Das ist keine Schwäche – es ist das Wesen des Entscheidens. Die Neurowissenschaft zeigt, dass keine Entscheidung ohne Emotion getroffen wird: Sie ist Teil der Funktionsweise unseres Gehirns. Etwas anderes zu behaupten, führt nur zu Frustration.
Führungskräfte, die diese Realität anerkennen – die zugeben, dass Entscheidungen Unsicherheit beinhalten und eine Mischung aus Fakten und Gefühlen sind – sind nicht schwach. Sie sind mutig. Denn sie wagen es, aus der Illusion der vollständigen Kontrolle und Berechenbarkeit auszubrechen. Sie gestehen ein, was für uns alle gilt: dass Führung nicht bedeutet, alles im Voraus zu wissen, sondern das Unbekannte verantwortungsvoll zu navigieren.
Einige Empfehlungen für Führungskräfte
Aus dieser Erfahrung ergeben sich meine Empfehlungen, einfach, aber nicht leicht:
Treffen Sie Entscheidungen. Warten Sie nicht auf absolute Gewissheit oder universelle Zustimmung.
Kommunizieren Sie transparent. Teilen Sie Ihre Überlegungen, erkennen Sie andere gültige Positionen an und seien Sie ehrlich über Unsicherheiten.
Übernehmen Sie Verantwortung. Machen Sie deutlich, dass Sie die Entscheidung tragen – nicht die Gruppe, nicht der Prozess, nicht „die Umstände“.
Passen Sie sich an, wenn nötig. Wenn sich eine Entscheidung als falsch erweist, ändern Sie den Kurs mit Ehrlichkeit und erklären Sie die neue Richtung klar.
Das ist Führung: Mut gepaart mit Flexibilität, Klarheit gepaart mit Offenheit. Es geht nicht darum, die Zukunft zu kontrollieren, sondern anderen zu helfen, sich mit Zuversicht auf sie zuzubewegen, auch wenn der Weg noch nicht vollständig sichtbar ist.
Die Organisation, mit der ich damals arbeitete, schaffte es zu diesem Zeitpunkt nicht dorthin. Doch die Lektion, die sie mir erteilte, werde ich weitertragen:Ohne den Mut zu entscheiden, gibt es keine Führung. Und ohne die Ehrlichkeit, sich anzupassen, kein Vertrauen.


